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01. Juli 2013

Evolutionsstrategie in der Produktentwicklung

Eine erfolgreiche Entwicklung erfolgt immer in Iterationsschritten - die Natur macht uns dies seit Jahrmillionen durch Vererbung, Survival of the Fittest und Mutation erfolgreich vor. Auch Sie und wir wollen in unseren Entwicklungen stets das Optimum erreichen. Die Kunst der Evolutionsschritte innerhalb einer zeitlich und budgetär klar eingegrenzten Produktentwicklung besteht darin, diese bewusst zu steuern und über gezielte Szenarien und Varianten vergleichbare Benchmarks und klar ableitbare Optimierungserkenntnisse erzielen zu können.

Bereits Ende der 1950er Jahre begannen verschiedene Forschergruppen die Prinzipien der Evolution nachzuahmen, um effiziente Optimierungsalgorithmen zu entwickeln. In den 1960er und 70er Jahren entstanden drei unterschiedliche Schulen: In den USA entwickelte Lawrence J. Fogel das Evolutionäre Programmieren (EP) und John H. Holland die Genetischen Algorithmen (GA), während Ingo Rechenberg und Hans-Paul Schwefel in Deutschland das Verfahren der Evolutionsstrategie (ES) entwickelten.

In einem aktuellen Kundenprojekt hatten wir jüngst die besondere Gelegenheit, mit Prof. Ingo Rechenberg zusammenzuarbeiten, der nicht nur der Erfinder der Evolutionsstrategie sondern auch einer der international bedeutendsten Wissensträger und Forscher im Bereich der Bionik ist. Inspiriert von dessen Lehre zu den Evolutionsstrategien und unseren praktischen Erkenntnissen aus unzähligen Entwicklungs- und Gestaltungsprojekten wollen wir in diesem Artikel über die Wichtigkeit des konsequenten und strategisch geplanten Umgangs mit Entwicklungserkenntnissen, Variantenableitungen und Änderungsinputs berichten.

Prof. Rechenberg führt in seinen Vorlesungen zur Evolutionsstrategie ein treffendes Beispiel an, welchem auch wir bei Entwicklungsvorhaben vor allen Dingen aufgrund der immer komplexeren und gegenseitig konkurrierenden Produktanforderungen stets wieder begegnen:

Ein Entwicklerteam bekommt die Aufgabe, einen 2l-Motor mit maximaler Leistung zu entwickeln.

 

1. Evolutions-Stufe: Vorgabe: 2 ℓ-Motor maximaler Leistung.
  Ergebnis: Motor verbraucht Unmengen Benzin.
Nicht akzeptabel – neue Entwicklungsschleife:

2. Evolutions-Stufe: Vorgabe: 2 ℓ-Motor maximaler Leistung pro verbrauchtem Liter Benzin.
  Ergebnis: Motor wiegt 1 Tonne.
Nicht akzeptabel – neue Entwicklungsschleife:

3. Evolutions-Stufe: Vorgabe: 2 ℓ-Motor maximaler Leistung pro verbrauchtem Liter Benzin mit minimalem Gewicht.
  Ergebnis: Motor fällt nach 100 Betriebsstunden auseinander.Nicht akzeptabel – neue Entwicklungsschleife:

4. Evolutions-Stufe: Vorgabe: 2 ℓ-Motor maximaler Leistung pro verbrauchtem Liter Benzin mit minimalem Gewicht und vorgegebener Lebensdauer


Quelle: "PowerPoint-Folien zur 2. Vorlesung "Evolutionsstrategie I" – Prof. Ingo Rechenberg

Jede dieser Evolutionsschleifen bedeutet natürlich den Einsatz von wertvoller Zeit, Ressourcen und Budget. Aus betriebswirtschaftlichen Betrachtungen und hinsichtlich der Effizienz besteht daher das Bestreben, diese Wiederholungen zu reduzieren und innerhalb der Reduzierung direkt an das Ziel zu kommen.
Wichtig ist daher bei Projektstart, die qualitätsbeeinflußenden Faktoren und Anforderungen möglichst umfassend zu sammeln und deren potentielle Einflüsse aufeinander und konkurrierenden oder komplementären Beziehungen zueinander zu erfassen. Hierzu eignet sich vor allen Dingen eine klassische Pflichtenhefterstellung und eine sorgfältige Projektvorbereitungs- und Konzeptfindungsphase mit interdisziplinären Experten- und Kreativworkshops sowie bewährten Konzeptionsmethodiken
(Morphologische Kästen, Nutzwertanalysen etc.) – Wir berichteten bereits in unserem Newsletterartikel Winter 2011 "Rettet das klassische Lastenheft"
Andererseits benötigt man für eine maximale Effektivität und Qualität einer Entwicklung auch einen gewissen Reifegrad. Fatal wäre es, wenn zwar in der Entwicklung Evolutionsschleifen gespart werden konnten, die Kinderkrankheiten dann aber erst im Markt auftreten. Hier helfen nur ein klar definiertes Validierungskonzept und die sorgfältige Überprüfung von Funktion und Design über entwicklungsbegleitende Modelle.
Der Qualitätsgrad einer Lösung kann nur erfasst werden, wenn er an Alternativen verglichen gemessen werden kann. Jeder Brillenträger kennt die Frage "So besser oder so besser?" wenn er beim Augenarzt nach der technisch präzisen Messung dann doch zur finalen Bestimmung der Sehschärfe nach empirischen Verfahren verschiedene Gläser und Schliffe zum Vergleich aufgesetzt bekommt.

Auch eine gute technische oder gestalterische Entwicklung ist nur möglich, wenn man in verschiedenen Konzeptvarianten und Lösungsalternativen arbeitet. Auch wenn sich bestimmte Varianten bei vergleichender Betrachtung dann im Nachhinein als deutlich schwächer herausstellen, so stärken Sie das Bewusstsein und das Commitment für die ausgewählte bessere Lösung und zeigen die Schwachstellen auf, die man an dieser weiterverfolgten Lösung dann tunlichst vermeiden möchte.

In der Natur haben sich auch nur über den Konkurrenzkampf verschiedener evolutionär entwickelter Lösungen jeweils die stärkeren herausgearbeitet. Wie jedoch auch Entwicklungen verschiedener Spezies in voneinander getrennten Regionen oder sogar Abspaltung von zwei für sich erfolgreichen Gattungen aufzeigen, gibt es auch nicht immer nur "die eine Richtige Lösung".

Prof. Rechenberg hat zu Demonstrationszwecken ein Rechenprogramm entwickelt, das über empirische Algorithmen eine ideale Bauform für eine Brücke berechnet. Hierbei werden zu Beginn mathematisch willkürlich zwei Varianten erstellt und miteinander verglichen. Im weiteren Rechenlauf wird dann jeweils nur die stärke Alternative weiterverwendet und mit einer neuen Alternative verglichen, während die vorher bereits verglichenen schwächeren Lösungen zukünftig ausgeschlossen werden – so nähert man sich immer weiter der idealen Form an.
Das interessante an diesem Beispiel ist, dass sich je nach Durchlauf zwei verschiedene ideale Lösungen ergeben, und zwar die klassische Hängebrücke und die Fischbauchbrücke mit umgekehrter Tragstruktur, welche beide für die Aufgabe ideale Vorrausetzungen erfüllen:

Die Kunst ist also, im Vorfeld eine möglichst treffende Konzeptthese als Ausgangsbasis für die weiteren evolutionären Entwicklungs- und Gestaltungsschritte zu formulieren. Dies durch sorgfältige Informationsbeschaffung und Auswertung (Methodik), Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln und Fachexpertisen (Interdisziplinarität) und Entwicklungserfahrung bzw. Gestaltungserfahrung.

Die weitere Herausforderung ist es, die richtige Vergleichsvariante und deren richtige Dosierung zu definieren, um die Vielfältigkeit bei beliebiger oder zu umfangreicher Änderung einzudämmen.
Verändert man zu wenig, bewegt man sich womöglich zu wenig weit nach vorne und benötigt viele Schritte bis zum Optimum. Verändert man zu extrem, sind die Ergebnisse womöglich nicht deutlich genug selektierbar, sondern es gibt zwei "interessante" Alternativen, aber keine "bessere" oder "schlechtere".
Verändert man zu viele Aspekte, so sind die Lösungen nicht mehr miteinander vergleichbar. 
Rechenberg sagt "Eine Suchstrategie funktioniert nur in einer geordneten Welt", daher ist es wichtig, die Anforderungen und Fragestellungen vorher klar zu definieren (Validierierungskonzept). Gleichzeit unterstreicht Rechenberg die Aussage "Es gäbe keine Evolutionsstrategie, wenn sich der Opponent "Natur" völlig willkürlich verhalten würde!" und daher ist "das Eingangs-Ausgangs-Verhalten eines nicht exotischen Versuchsobjekts im Bereich kleiner Änderungen immer voraussehbar".

Rechenberg rät, die folgenden drei Fragen an das Versuchsobjekt zu stellen:

"WAS ist die Reaktion auf eine vorgegebene Aktion?" 
"WARUM ist die Reaktion in der beobachteten Weise erfolgt?"
"WOMIT kann eine vorgegebene Reaktion erhalten werden?"


Quelle: "PowerPoint-Folien zur 2. Vorlesung "Evolutionsstrategie I" – Prof. Ingo Rechenberg

Innerhalb des Prozesses der Entwicklungsstufen müssen also unbedingt die Zusammenhänge und Kausalitäten der verschiedenen Eigenschaften erfasst werden. Wie an dem Beispiel der Motorenentwicklung dargestellt, sind die Produktfunktionen oft vernetzt und beeinflussen sich gegenseitig. Die Gefahr besteht bei zu wenig in der Tiefe untersuchten Änderungen, dass man ein Produkt "verschlimmbessert". Mit der Optimierung einer (oft vordergründigen) Eigenschaft werden schlimmstenfalls 2-3 andere (verdeckte) Eigenschaften ungewollt beeinflusst und verschlechtert. Bemerkt man diese Reaktion nicht direkt, da Sie vielleicht nur langfristig oder erst in einem späteren Betrachtungs-prozess eine Wirkung entfaltet, so birgt dies eine hohe Gefahr für den Entwicklungserfolg. 

Wir stellen immer wieder fest, dass auf Basis erster ungewünschter Erkenntnisse statt analytischer Bestandsaufnahme der Ursachen, Wirkungen und Verbindungen vorschnell umfangreiche Änderungen vorgenommen werden und im Nachgang wieder andere negative Einflussgrößen verursacht werden. Im evolutionären Optimierungsprozess komplexer Produkte hilft nur die konsequente Bestandsaufnahme, welche Effekte durch welche Ursachen erzeugt werden und erst einmal für diese einzelnen Effekte Lösungen zu finden. Diese müssen jedoch nicht immer nur Änderungen der eigentliche Ursache sein - auch gezielte Lösungen zum Kaschieren oder Ausnivellieren des Effektes sind durchaus zielführend, da diese meist adaptiv und ohne großartige Vernetzungen zu anderen Eigenschaften eingesetzt werden können.
Wenn evolutionäre Änderung dann definiert und adaptiert sind, müssen diese dann wieder vergleichend zum Urzustand untersucht werden, und es muss geprüft werden, ob das Produkt nun – in der Summe seiner Eigenschaften – wirklich besser als die vorherige Lösung ist. Hier helfen unter anderem klassische Nutzwertanalysen. Treten nun durch die Veränderung neue Effekte auf, so müssen hierzu ebenfalls wieder Lösungen gefunden werden, und die nächste, detailliertere Evolutionsstufe erfolgt.

Wichtig im gesamten Entwicklungsprozess ist jedoch auch, eine Ziel-Evolutionsebene zu definieren, da man ansonsten die Evolutionsspirale bis zum Unendlichen betreiben kann. Oft wird nach dem "eierlegende Wollmichsau-Produkt" gesucht, statt gezielt den Fokus auf bestimmte Kern-Funktionen und klare Differenzierungselemente zu legen und statt andere Neben-Effekte mit "Nice-to-have" Status zu belegen und diese ggf. auch nur mit 80% Zielerreichung zu akzeptieren.

Auch die erste Änderung, mit der eine gewünschte Reaktion erreicht werden kann, ist nicht unbedingt die einzige oder beste. Hier hilft es ebenfalls, die gewünschte Reaktion noch einmal genauer zu formulieren und zu ergänzen mit einzuschließenden Neben-Reaktionen und nicht relevanten Anforderungen, um mit einer präziseren Zielformulierung dann optimierte Lösungen zu erreichen. z.B. " Wie kann man das Gewicht entsprechend Lösung 02 reduzieren, aber dabei die Steifigkeit wieder erhöhen, wobei die Lösung nicht unbedingt ein einteiliges Gehäuse sein muss"…

Das von Rechenberg beschriebene Vorgehen der Evolutionsstrategie eignet sich übrigens nicht nur für technische Entwicklungen und Problemstellungen, sondern auch hervorragend für den Designprozess.

Gerade bei Gestaltungskonzepten ist es essentiell wichtig, Designvarianten nicht pauschal mit dem Urteil "gefällt nicht" abzuwählen, sondern möglichst dezidiert zu beschreiben, warum das Design und die dadurch erzeugte Assoziation nicht gefällt und sich über die Änderung einzelner Komponenten an das gewünschte Gesamtbild anzunähern (z.B. "Produkt erscheint zu technisch durch die scharfen Kantenübergänge"). In diesem Prozess ist jede Konzeptvisualisierung – auch wenn sie nicht gefällt - ein hilfreicher und wichtiger Schritt zur Formulierung und Konkretisierung einer optimierten Lösung, da so im Zuge des Evolutionsprozesses bestimmte Gestaltungsrichtungen ausgeschlossen werden können. Formuliert man die Kritik in einen weiterführenden Wunsch (z.B. "Das Design würde mir besser gefallen, wenn die Form insgesamt weicher und mehr geschwungen wäre") ist man bereits auf einem produktiven Evolutionsweg!

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen und uns erfolgreiche Evolutionsprozesse und bedanken uns bei Prof. Rechenberg für die Inspirationen!

Ihr Ansprechpartner bei BUSSE:
Felix Timm, Tel.: +49 (0)7308 811 499 23, timm@busse-design.com

Portrait Prof. Ingo Rechenberg
Ingo Rechenberg (* 20. November 1934 in Berlin) ist einer der Mitbegründer des Einsatzes von evolutionsbiologischen Algorithmen in den Ingenieurwissenschaften. Er ist seit 1972 Professor für Bionik an der Technischen Universität Berlin. Derzeit ist er kommissarischer Leiter des Lehrstuhls für Bionik und Evolutionstechnik an der TU Berlin.
Ausführliche Informationen: http://www.bionik.tu-berlin.de/institut/n2rechenb.html 

Literaturempfehlung:

  • Ingo Rechenberg: Evolutionsstrategie. Optimierung technischer Systeme nach Prinzipien der biologischen Evolution., Frommann Holzboog 1973, ISBN 3-7728-0373-3 (Diss. von 1970).
  • Ingo Rechenberg, Evolutionsstrategie '94.Frommann Holzboog 1994,
    ISBN 3-7728-1642-8.
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